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Der 6. Dezember 2016 markiert einen Meilenstein in der Geschichte des Cheerleadings: Das International Olympic Committee (IOC) erhebt den Sport in den Status „provisorisch olympisch“. Drei Jahre lang erhält die International Cheer Union (ICU) Ressourcen, um den Sport weltweit zu entwickeln und auf die Olympiade vorzubereiten. Dann wird entschieden, ob wir in Zukunft Cheerleader an der Olympiade antreten sehen.
Im Februar 2018 erhielt unser Coed National Team die Chance seines Lebens: Sie erhielten eine Einladung an die olympischen Winterspiele in Pyeongchang. Florence, Head Coach des Teams, erzählt uns mehr darüber, wie das zustande kam und was in Südkorea passierte.
Flo, die Schweiz ist nicht gerade als Cheerleading Nation bekannt. Wie ist das passiert?
Die Geschichte ist ziemlich verrückt. Cris (Präsidentin des Cheerleading Verbands Schweiz) und ich wurden vom Präsident der Korean Cheer Association (KCA) nach Lausanne eingeladen. Er war dort wegen eines Meetings mit dem olympischen Komitee. Wir hatten keine Ahnung, was uns erwartete.
Als wir in Lausanne ankamen erzählten uns der Präsident und sein Vizepräsident von ihrem Projekt. Sie wollten Cheerleading Teams aus sieben Nationen zu den Olympischen Spielen in Pyeongchang einladen, damit diese dort Auftritte zu zeigen könnten. So wollten sie den Bekanntheitsgrad der Sportart verbessern und sie zum ersten Mal im olympischen Umfeld zeigen.
Wir waren natürlich begeistert, aber im selben Zug ein wenig verwirrt. Wieso die Schweiz? Viele europäische Länder haben eine besser entwickelte Cheer-Landschaft. Wir wollten nicht nach Korea reisen, nur damit sie uns dann dort sagen können, dass wir nicht gut genug sind und bitte wieder nach Hause gehen sollen. Sie haben uns dann erklärt, dass sie die Nationen einladen, die in den Winterspielen regelmässig viele Podestplätze holen, weshalb sie auch die Schweiz dabei haben wollen.
Wie habt ihr ausgewählt, wer mit nach Pyeongchang kommt?
Unser erster Gedanke war das Allgirl National Team, das auf Verbandsebene organisiert wird und ein offizielles Tryout hatte. Die KCA wollte aber ein Coed Team. Ein zusätzliches Problem wäre beim Allgirl gewesen, dass wir nur 4 Monate zur Vorbereitung hatten und das Allgirl schon sehr ausgelastet war. Schliesslich müssen sie alle im April zwei Wochen Ferien nehmen, um nach Orlando zu gehen; zwei zusätzliche Wochen im Februar, wo sie intensiv in der Vorbereitung sind, wären für viele nicht möglich gewesen. Sie sollten all ihre Energie auf die Weltmeisterschaften fokussieren.
Also schauten wir uns die Coed Teams an. Die offensichtlichste Wahl wären die Capital Hornets, die letztes Jahr die Schweizermeisterschaft gewonnen haben. Sie sind aber mittlerweile ein Allgirl Team. Also haben wir uns an die Zweitplatzierten gewendet: Eclipse von den Lausanne Angels. Fast alle Athleten konnten die Abwesenheit mit ihren Arbeitgebern vereinbaren, und so ist die Entscheidung gefallen.
Das Level des Teams war nicht off-the-charts überragend im Vergleich zum internationalen Standard, aber im Gegensatz zum Allgirl Team konnten sie zweimal die Woche miteinander trainieren. Unser Ziel war es, eine saubere Level 5 Routine zu zeigen. Eclipse startete bisher im Level 6, also gab es da noch eine grosse Umgewöhnung. Aber sie haben das toll gemeistert.
Wie war euer Trip organisiert?
Anfangs war vieles unklar. Wir haben gedacht, das klingt alles zu gut um wahr zu sein. Die KCA wollte alle Flugtickets, Kost und Logis komplett übernehmen. Zu diesem Zeitpunkt im Meeting haben wir uns nach den versteckten Kameras umgesehen. Aber es war kein Witz. Weil die KCA so viel zu organisieren hatte, haben wir unsere Flugtickets erst mitte Januar erhalten. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir dann, dass alles wirklich real war.
Eine unserer grössten Sorgen war die Wettervorhersage. Es sollte in Korea extrem kalt werden, und wir hatten keine Ahnung ob wir drinnen oder draussen auftreten würden. Wir hatten eigentlich generell überhaupt keine Ahnung, was von uns erwartet wurde. Nur eine Show? Mussten wir die schweizer Athleten anfeuern? Würden wir in Uniform Spalier stehen? Ohne all dies zu wissen bestiegen wir am 17. Februar das Flugzeug nach Südkorea.
Es stellte sich heraus, dass die Koreaner alles im Griff hatten. Ein Bus inklusive Fahrer und Übersetzerin stand am Flughafen bereit und brachte uns in eine Universität nahe den olympischen Wettkampfstätten. Sogar das Essen dort war für uns organisiert.
Okay, ihr seid also wohlbehütet– aber was habt ihr in Korea gemacht?
Zu diesem Zeitpunkt hatten wir selbst immer noch keinen Plan. Es gab einen Zeitplan, aber der konnte sich jede Sekunde ändern. Am Schluss hat aber trotzdem alles gut geklappt.
Wir konnten in einer Anlage etwa fünf Minuten von unserer Unterkunft jeweils morgens trainieren. Die anderen Teams (USA, Kanada, Niederlande, Russland, Deutschland und Norwegen) trainierten am selben Ort. Wir hatten einen tollen kulturellen Austausch mit ihnen, genauso wie mit unseren koreanischen Gastgebern. Wir konnten nur an wenigen Tagen trainieren, unser Terminplan war so vollgepackt mit Auftritten. Wir hatten Aufführungen an einer Pressekonferenz, einem Dinner, vor dem House of Switzerland, an der Vor-Abschlussfeier auf der Medal Plaza und sogar an der grossen Abschlussfeier im Stadion. Diese letzte war besonders cool, weil alle Cheerleader Teams zusammen auftraten. Ein Team war vorne und machte seinen Auftritt während die anderen im Hintergrund eine Choreo machten.
Der Tag der Abschlussfeier war total verrückt. Alle Teams hatten dieselbe Uniform an: Eine orange Jacke und schwarze Trainerhosen. Wir waren nicht da, um unser Land anzufeuern, sondern um unseren Sport zu zeigen und dem ganzen Stadion noch ein letztes Mal einzuheizen. Es waren etwa 30’000 Zuschauer da! Alles ist gut gegangen und wir konnten eine solide Routine zeigen.
Danach schauten wir uns den Rest der Zeremonie auf einem Bildschirm hinter der Bühne an. Am Schluss tanzten wir mit allen anderen Athleten im Stadion den Stress der Woche weg.
Was waren deine persönlichen Highlights?
Etwas, das uns den ganzen Trip versüsst hat, war die unglaubliche Gastfreundlichkeit der Koreaner. Sie gehören zu den freundlichsten und respektvollsten Menschen, die ich je kennenlernen durfte, und sie waren so enthusiastisch. Unsere Übersetzer und die restlichen Helfer – alles Freiwillige, wohlgemerkt! – zögerten nicht, uns in jeder Situation zu helfen. Sie brachten sogar einige Athleten ins Krankenhaus, um Medikamente abzuholen. Einer meiner Athleten nennt Südkorea „Country of Smiles“. Alle Zuschauer lachten und klatschten immer wie wild, sogar als wir nur eine Warmup-Routine angezeigt haben, ohne zu stunten.
Einer unserer grössten Auftritte war auf der Medal Plaza. Wir waren zusammen mit den Teams USA, Kanada und Korea eingeteilt – einige der grössten Cheer-Nationen der Welt. Wir dachten, wir wären der „Opener“ für diese Teams, um die Menge für die grossen Player aufzuwärmen. Aber dem war nicht so. Wir traten genau zwischen diesen grossartigen Teams auf, völlig gleichberechtigt.
Der Druck war riesig. Ehrlich gesagt waren unsere Athleten zu diesem Punkt schon sehr müde. Das Reisen, die ständigen Trainings und die Auftritte, und vor allem die fehlende Zeit für sich allein machten sich bemerkbar, physisch und mental. Wir hatten auch ein schlechtes Run-Through. Es waren -5 Grad und wir waren in unseren bauchfreien Uniformen ohne richtiges Warm Up während alle anderen Teams im Trainer da standen. Das Memo, dass wir das durften, ist bei uns nicht angekommen. Wir standen also hinter der Bühne, frierend und zitternd, teils aus Angst teils aus Nervosität. Wir würden der Welt das Cheerleading präsentieren, und wenn wir es vergeigten könnte dies die ganze Vorbereitungsarbeit von ICU und somit die Chance auf eine Olympia Anerkennung schwer beschädigen.
Dann kam die Musik. Wir waren an der Reihe, und alle Gedanken verschwanden aus meinem Kopf. Jetzt waren es nur ich, mein Team, unsere Musik, unsere Routine und der Sport, den wir alle so lieben. Wir vergassen all die Müdigkeit, die Kälte und die Nervosität und lieferten eine saubere Routine ab. Sogar die Leute von ICU gratulierten uns am Abend für unsere Leistung. Natürlich konnten wir zwischen den USA und Kanada nicht mit unserem Level überzeugen. Sie waren aber schwer beeindruckt von unserem Auftritt in Uniform, unserem Spirit und generell damit, was ein Land mit so wenigen Cheerleadern zustande bringen konnte.
Komm schon Flo, nur noch eine Geschichte!
Na gut! Einer meiner persönlichen Highlights war Team Korea. Keiner von ihnen konnte wirklich Englisch, also ging alle Kommunikation nur durch unsere Übersetzer. Wir waren öfters zusammen für Auftritte eingeteilt und haben deshalb einen ganzen Tag mit ihnen verbracht. Vor unserer letzten Performance am Abend rannten wir zwischen zwei Containern im Kreis, weil wir sonst nirgends Platz fanden.
Aus dem Nichts fingen die koreanischen Athleten an, unseren „Go Switzerland“ Cheer zu schreien! Erst nur eine, dann zwei, und bald das ganze Team. Unser Team machte mit, und als wir fertig waren, starteten wir den koreanischen Cheer.
Der Moment war magisch. Wir teilten unsere Cheers und unsere Freude. Trotz der Sprachbarriere spürte in diesem Moment jeder den olympischen Spirit. Bei den Spielen geht es darum, Athleten und Menschen der ganzen Welt in einem Verständnis von Kultur, Freundschaft, Solidarität und Fair Play zusammenzubringen. Dazu braucht man keine gemeinsame Sprache.
Wir gingen später noch mit Team Korea zum Abendessen. Anfangs war es etwas peinlich, aber mithilfe unserer Smartphones und viel Zeichensprache haben wir uns dann doch super verstanden. Wir werden uns bald in Orlando wiedersehen!
Vielen Dank für die geniale Story, Flo!
Ich war von eurer Erfahrung in Korea echt berührt. Schlussendlich geht es im Cheerleading um so viel mehr als nur coole Stunts und schöne Tumbling Tricks. Es gibt für jeden einen Platz im Team, und jeder kann auf dieser Matte seine Lebenslektionen lernen. Ich wünsche dir und Eclipse viel Erfolg in Orlando!
Und weiter!
Schau dir doch ein paar Videos und Artikel an, die von den Schweizer Medien publiziert wurden:
- DE: Tagesanzeiger (video interview beim House of Switzerland)
- DE: Blick (House of Switzerland ganze Performance)
- FR: 24heures (Abschlussfeier ganze Performance von Team Switzerland)
- FR: Le Matin (Vorstellungsvideo Eclipse)
- NE: Vlog von Team Netherlands (Abschlussfeier bei 01:30)
Auch sind die Videos der Spirit Fever Open jetzt online! Ich sehe euch nächste Woche wieder, wenn wir uns noch genauer mit den einzelnen Positionen im Team auseinandersetzen und sehen, was Athleten alles mitbringen müssen.